14. Oktober 2013

Gottfried Michael Koenig: Kammermusik

Spricht man mit Leuten, die in den 1950er- und 1960er-Jahren im Studio für Elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks gearbeitet haben, so kommt man zwangsläufig und stets auch gerne auf Gottfried Michael Koenig zu sprechen, den, wie manche ihn damals genannt haben, „Außenminister“ derjenigen Institution, die das Fundament legte zu einem der seither weltweit wichtigsten Orte der Neuen Musik: Köln.

Koenig, der „Außenminister“ übrigens deswegen, weil er kontaktfreudig-kollegial die projektbezogen im Studio arbeitenden Komponisten aus aller Welt tatkräftig bei ihren Vorhaben unterstützte, sich, auch eine diplomatische Fähigkeit, in die ästhetischen Konzepte anderer hineinzudenken wusste und mit den Urhebern, wo sich Probleme auftaten, gemeinsam nach technischen Lösungen suchte und zumeist auch welche fand.

György Ligeti, Hans G Helms, Franco Evangelisti, Bengt Hambraeus, Konrad Boehmer sind nur einige temporäre „WDR-Studioarbeiter“, die begeistert von Koenigs Hilfsbereitschaft, vor allem aber von seiner außerordentlichen Kenntnis im elektronischen Metier berichtet haben. Mauricio Kagel, der 1957 von Buenos Aires nach Köln übergesiedelt war, eigens um im Elektronischen Studio arbeiten zu können, schenkte dem Außenminister und Entwicklungshelfer Gottfried Michael Koenig im selben Jahr zum Geburtstag einen Text, der so manch kleines Detail der damaligen ästhetischen Diskussionen spielerisch-ironisch fixiert. Ein Ausschnitt:

„‚Ich befinde mich zwischen Gott und der Freiheit‘, sagte der Mann. ‚Natürlich, du heißt Gottfried‘, warf ihm Phon vor und dachte an die Ära der Prä-Elektrizität. ‚Watt willst du‘, wies ihn die Stimme zurecht, ‚noch eine Ordnung schaffen?‘ ‚Nein, im Gegenteil‘, schrieb der Mann, ‚das Positive ist negativ, ich bin ein Negativist!!‘ ‚… des Positivismus‘, sagte Ohm und gähnte. Währenddessen stöberte er seinen perfekten Kreis auf. ‚Ich werde dir ein Verslein sagen‘, sagte der Raum mit seinem Echo: ‚Die beste Hierarchie ist die Anarchie. Als ich sie am meisten wollte, hat sie mich belogen …‘“

Ordnung und Chaos, seriell und aleatorisch, elektronisch und instrumental (nur in den frühesten Jahren auch vokal), positiv und negativ (physikalisch-elektrisch wie philosophisch) – das sind nur einige Begriffe, denen man im Diskurs der jungen Nachkriegsavantgarde wiederholt begegnet – Stichwort „Darmstadt“ – und die sogar bis heute noch immer eine gewisse Rolle spielen, je nachdem wo sich der/die Gesprächspartner ästhetisch verorten (lassen/wollen). Natürlich sind die Begriffe auch für Koenigs Musikdenken wesentlich – nachzulesen in seinen zahlreichen Essays und Kommentaren, die unter dem Titel „Ästhetische Praxis“ als sechsbändige Edition im Pfau-Verlag Saarbrücken erschienen sind (1991–2006) – als Gemeinschaftsprojekt mit dem Fachbereich Musikwissenschaft der Universität des Saarlandes, deren Philosophische Fakultät I ihm 2002 die Ehrendoktorwürde verliehen hat. [1]

Gottfried Michael Koenig, geboren am 5. Oktober 1926 in Magdeburg, studierte an der Nordwestdeutschen Akademie in Detmold unter anderem Komposition (bei Günter Bialas) und Analyse (bei Wilhelm Maler). 1953 zog er nach Köln. Der Grund: die Möglichkeiten der elektronischen Klangerzeugung, die er in Vorträgen von Werner Meyer-Eppler und Herbert Eimert bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt kennengelernt hatte. Denn die Faszination, die diese neuen Musikproduktionskonzepte auf ihn ausübten, ließ ihn nicht mehr los, hatte er doch bei der Studienwahl lange zwischen Musik und einer naturwissenschaftlichen Disziplin geschwankt. Herbert Eimert, auf dessen Initiative hin die WDR-Intendanz die Studiogründung 1951 befördert hatte, war es auch, der Koenig nach dem bereits dort tätigen Karlheinz Stockhausen als zweiten Komponisten mit technischen Aufgaben für die Studioarbeit verpflichtete.

Gottfried Michael Koenig, im Jahre 1962
Es entstanden seine ersten elektronischen Stücke, die seither zum Kanon der Neuen, der elektronischen Musik gehören: Klangfiguren I und II (1955–56), Essay (1957/58), Terminus I (1962). In Köln formulierte Koenig die ersten ästhetischen wie theoretischen Kapitel für das gelebte Handbuch der schwingenden Elektronen, vorwiegend in praktischer Lehre während der Studioarbeit („learning by doing“) sowie zeitweise als Dozent an der Kölner Musikhochschule und an anderen (akademischen) Institutionen. Die nächsten Kapitel entstanden dann an der Universität Utrecht, wo er zwischen 1964 und 1986 als künstlerischer Leiter des neugegründeten „Instituut voor Sonologie“ tätig war. Hier setzte er seine Lehrtätigkeit fort, feilte er an den intensiven Reflexionen über Technik und Ästhetik des Komponierens, des elektronischen wie des instrumentalen.

Denn unter den rund sechzig Werken, die Koenig geschrieben hat, ist der umfangreichere Teil „unplugged“. Aber auch in diesen Kompositionen für akustische Instrumente ist er – anders als viele seiner Kollegen (auch als die von einst) – dem seriellen Ansatz treu geblieben, hat ihn sogar konsequent weiterentwickelt. Dabei spielt die Einbindung des Computers seit vielen Jahren schon eine zentrale Rolle. In Koenigs Programmen Projekt 1 (ab 1963), Projekt 2 (ab 1966) und Projekt 3 (ab 1985) können die aus dem Serialismus entwickelten Kompositionsstrategien – wozu er auch die mathematisch definierte Aleatorik zählt – dargestellt werden. Und das vermag bei der Planung des Werkes zu helfen wie auch dem inneren Zusammenhalt der Parameter. Allerdings sind die Programme ohne musikalisches Vorstellungsvermögen kaum adäquat zu handhaben. Koenigs Projekt(e)-Software ist weder ein digitales noch ein kognitives „plug&play“-System, die Projekt(e) suspendieren keineswegs die Kreativität und ästhetische Verantwortung des Komponisten.

Als in den 1980-/90er-Jahren das Etikett „Postmoderne“ Usus wurde, setzte ihm der Musiktheoretiker und frühe Koenig-Exeget Heinz-Klaus Metzger die Vokabel „Prämoderne“ entgegen: Da die Moderne sich noch lange nicht erfüllt habe, könne von einem „nach“ schließlich keine Rede sein. [2] Und nach wie vor befindet und bewegt sich der Komponist und Theoretiker Gottfried Michael Koenig in der Ära der Prämoderne, übrigens gleich uns. Nur dass Koenig als ästhetischer Negativist (des Positivismus) immer noch die Ideen und Ideale des musikalischen Fortschritts verfolgt.

Anmerkungen

[1] Siehe zu Koenigs Musikdenken auch die Publikationen Gottfried Michael Koenig, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München: text + kritik 1989 (= Musik-Konzepte 66); Gottfried Michael Koenig. Parameter und Protokolle seiner Musik, hrsg. von Stefan Fricke, Saarbrücken: Pfau 2004.

[2] Heinz-Klaus Metzger, Kölner Manifest 1991, in: Blick zurück nach vorn – ein Buch zur Praemoderne, hrsg. von Ingrid Roscheck, Heribert C. Ottersbach und Manos Tsangaris, Köln: Thürmchen-Verlag 1992.


Quelle: Stefan Fricke: Kölner Außenminister und Entwicklungshelfer. Zum achtzigsten Geburtstag des Komponisten Gottfried Michael Koenig. In: NMZ, Ausgabe 10/06, 55.Jahrgang

Zwei Klavierstücke (1957): Ausschnitt aus: Klavierstück I

Disc 1, Track 4: Streichquartett, 1959


TRACKLIST

Gottfried Michael Koenig
(* 1926)

Kammermusik

CD 1

1.+2. Zwei Klavierstücke, 1957 (WDR 1995)                                14:13 
Jan Marc Reichow, Klavier 

3. Suite »Materialien zu einem Ballett«, 1961 (WDR 1961)                 20:48 
Elektronische Komposition, Gottfried Michael Koenig 

4. Streichquartett, 1959 (WDR 1961)                                      10:04 
LaSalle Quartet: Walter Levin, 1. Violine; Henry Meyer, 2. Violine; 
Peter Kamnitzer, Viola; Jack Kirstein, Violoncello 

5. Terminus X, 1967 (Institut für Sonologie in Utrecht 1967)             11:46 
Elektronische Komposition, Gottfried Michael Koenig 

6. Funktion Grün, 1967 (Institut für Sonologie in Utrecht 1967)           8:25 
Elektronische Komposition, Gottfried Michael Koenig 

7. Funktion Gelb, 1968 (Institut für Sonologie in Utrecht 1968)          12:43
Elektronische Komposition, Gottfried Michael Koenig 

                                                             Gesamtzeit: 77:59 

CD 2

1.-60.60 Blätter für Streichtrio, 1992 (WDR 1996) 
Trio Recherche: Melise Mellinger, Violine; 
Barbara Maurer, Viola; Lucas Fels, Violoncello 

Blatt 1  00:42  Blatt  2 00:41  Blatt 3  00:21  Blatt  4 00:45  Blatt  5 00:36 
Blatt 6  00:35  Blatt  7 00:37  Blatt 8  00:32  Blatt  9 00:35  Blatt 10 00:20
Blatt 11 00:38  Blatt 12 00:30  Blatt 13 00:35  Blatt 14 00:31  Blatt 15 00:43 
Blatt 16 00:34  Blatt 17 00:36  Blatt 18 00:36  Blatt 19 00:44  Blatt 20 00:46 
Blatt 21 00:35  Blatt 22 00:34  Blatt 23 00:40  Blatt 24 00:39  Blatt 25 00:29  
Blatt 26 00:38  Blatt 27 00:30  Blatt 28 00:26  Blatt 29 00:41  Blatt 30 00:46 
Blatt 31 00:26  Blatt 32 00:44  Blatt 33 00:41  Blatt 34 00:49  Blatt 35 00:43 
Blatt 36 00:36  Blatt 37 00:32  Blatt 38 01:00  Blatt 39 00:37  Blatt 40 00:55 
Blatt 41 00:45  Blatt 42 00:47  Blatt 43 00:19  Blatt 44 00:42  Blatt 45 00:45 
Blatt 46 00:39  Blatt 47 00:51  Blatt 48 00:23  Blatt 49 00:26  Blatt 50 00:37 
Blatt 51 00:33  Blatt 52 00:44  Blatt 53 00:51  Blatt 54 00:31  Blatt 55 00:27 
Blatt 56 00:49  Blatt 57 00:46  Blatt 58 00:37  Blatt 59 00:52  Blatt 60 00:51 

                                                             Gesamtzeit: 38:45 
                                                             
Initiator, Werkauswahl und CD-Mastering: Kees Tazelaar
(P) 2006

Disc 1, Track 6: Funktion Grün, 1967


Nadar: Sarah Bernhardt (um 1864)


Nadar: Sarah Bernhardt, um 1864
Mademoiselle sans Géne

Sie war so jung wie die Fotografie. Und es steht außer Frage, dass auch Sarah Bernhardt fasziniert war von dem neuen Bildmittel. Auf jeden Fall nutzte sie das Medium konsequent zur Förderung ihres aufkommenden Ruhms.

Irgendwann im Laufe des jahres 1864 lässt sich die junge Sarah Bernhardt im Pariser Atelier von Félix Tournachon, genannt Nadar, porträtieren. Tag oder Monat sind nicht überliefert. Auf 1864 immerhin hat sich die Forschung einigen können. In diesem Jahr wird die als Henriette Rosine Bernard geborene Tochter einer holländischen Jüdin 20 Jahre alt. Von ihr als einer berühmten Schauspielerin zu sprechen, wäre erheblich übertrieben. Noch nicht einmal das Wort viel versprechend wäre zu diesem Zeitpunkt angebracht. Zwar hat sie das Pariser Konservatorium mit Anstand hinter sich gebracht und die Abschlussprüfung als Zweite ihres Jahrgangs bestanden. Auch hat sie unmittelbar danach - allerdings nicht ohne Unterstützung der einflussreichen Freunde ihrer Mutter - ein Engagement an der Comédie Française erhalten, damals immer noch Frankreichs Theater Nummer eins.

Dass sie hier auf Anhieb brilliert hätte, lässt sich freilich kaum behaupten. Eher das Gegenteil ist der Fall: »Ihr Debüt«, schreibt Cornelia Otis Skinner, eine ihrer Biografinnen, »war keineswegs sensationell, es war nicht einmal gut.« Vor allem ihr Lampenfieber, das sie bis zum Ende ihrer Karriere verfolgen wird, schwächt ihr Selbstbewusstsein auf der Bühne. Entsprechend zurückhaltend reagiert die Kritik. Sie halte sich gut und spreche ausgezeichnet, schrieb etwa Francisque Sarcey im Hinblick auf ihren ersten Auftritt als Iphigenie in Racines gleichnamigem Stück, um freilich wenig später auch dieses verhaltene Lob wieder zurückzunehmen. Ihre Leistungen, so der einflussreiche Kritiker der Zeitung Le Temps, seien ungenügend. Wenn sie überhaupt Eindruck gemacht zu haben scheint, dann durch ihr Aussehen: »Mademoiselle Bernhardt … ist eine große und hübsche junge Person von schlankem Wuchs und sehr angenehmem Gesichtsausdruck. Insbesondere ihre obere Gesichtshälfte ist von bemerkenswerter Schönheit. Ihre Haltung ist gut und ihre Aussprache vollkommen klar. Mehr«, so Sarcey, »lässt sich vorläufig nicht sagen.«

1864 kann Sarah Bernhardt auf knapp zwei Jahre Bühnenpraxis zurückblicken. Sie hat in Stücken von Molière und Racine mitgewirkt und sich in Aufführungen heute vergessener Autoren wie Théodore Barrière, Jean Bayard, Léon Laya oder Alfred Delacour behauptet. Aufsehen erregt sie bis dato allenfalls durch eine gewisse Exaltiertheit in Kleidung und Auftreten sowie eine Reihe mittlerer Skandale, die ihrem Fortkommen zunächst jedoch alles andere als dienlich sind. Eine Ohrfeige auf offener Bühne führt Anfang 1863 zu ihrer Entlassung aus der Comédie Française. Seitdem gilt sie als schwierig, trotzig, hochfahrend und bleibt bis auf weiteres ohne festes Engagement. Zudem ist sie schwanger. Das Kind - ein Sohn mit Namen Maurice - wird im Dezember 1864 unehelich geboren - alles in allem eine nicht unbedingt beneidenswerte Lage. »Diese junge Person«, soll ihr Lehrer am Konservatorium einst prophezeit haben, »wird entweder genial oder grauenhaft.» Zu jenem Zeitpunkt scheint letzteres wahrscheinlicher.

In eben diesem für Sarah Bernhardt nicht gerade viel versprechenden Jahr begibt sich die junge Mimin ins Atelier Nadar. Es ist dies nicht irgendeines der mittlerweile zahlreichen Fotostudios in Paris, es ist das größte und vermutlich auch das bekannteste. 1860 am Boulevard des Capucines, Nummer 35, also in unmittelbarer Nähe der Opéra Garnier eröffnet, trifft sich hier, was Rang und Namen hat - vielleicht nicht gerade die Machtelite des Zweiten Kaiserreichs, zu dem der republikanisch gesinnte Nadar ohnehin kritische Distanz wahrt. Dafür die Mitglieder jener Künstlerboheme, der Félix Tournachon selbst entstammt, auch wenn ihn mittlerweile ein ausgeprägter Geschäftssinn von den - wie sie sich selbst bezeichnen - »Wassertrinkern« trennt.

»Sarah Bernhardt nach ihrem Abgang vom Konservatorium«,
Artikel in der französischen Illustrierten VU, 12. August 1931.
Nadars Aufnahme ist hier auf 1861 datiert.
Ein Pantheon prominenter Zeitgenossen

Begonnen hatte Gaspard-Félix Tournachon, der sich ab 1838 Nadar zu nennen pflegte, als Theaterkritiker, Schriftsteller, Herausgeber einer Literaturzeitschrift, Zeichner und Karikaturist. Für Aufsehen sorgte sein 1851 begonnenes Projekt eines (lithografierten) Pantheons berühmter Zeitgenossen, das freilich aus finanziellen Gründen über eine erste Lieferung nicht hinaus kam. Dass er sich im selben Jahr der noch jungen Fotografie zuwendet, scheint auf den ersten Blick nur folgerichtig. Das technische Bildmittel ist schneller, billiger, und auch mit seiner Hilfe lässt sich so etwas wie ein Pantheon prominenter Persönlichkeiten realisieren. Im Übrigen war soeben ein neues, nicht eben unkompliziertes, dafür in seiner Lichtempfindlichkeit um ein Vielfaches gesteigertes Verfahren bekannt geworden: das Nasskollodiumverfahren, dessen sich Félix Tournachon bereits bei seinen ersten Aufnahmen bedient. Sind es zunächst die Mitglieder der Familie, die Nadar porträtiert, so treten schon bald die Künstlerfreunde vor die Kamera: Baudelaire, Champfleuri, Doré, Delacroix, Rossini oder Berlioz, deren schlichte, gesammelte, konzentrierte Studien »bis heute nichts von ihrer Unmittelbarkeit verloren haben« (Françoise Heilbrun).

In ganz kurzer Zeit jedenfalls treibt Nadar seine Porträtkunst zu bemerkenswerter Blüte, wobei ihm natürlich das Vertrautsein mit den Dargestellten, seine langjährige Tätigkeit als Karikaturist sowie sein »allgemeines Interesse am menschlichen Wesen« (Heilbrun) geholfen haben dürften. Dass er sich seiner Kunst, seines »Genies« durchaus bewusst war, belegt ein damals Aufsehen erregender Prozess gegen den konkurrierenden Bruder Adrien, in dessen Verlauf Nadar selbstsicher erklärte, dass man in der Fotografie vieles, aber nicht alles erlernen könne. Speziell das herausragende Porträt verdanke sich im Wesentlichen dem Talent des Künstlers hinter der Kamera. Eine Einschätzung, der Philippe Burty in seiner Kritik des Photographischen Salons von 1859 durchaus folgen mochte: »Herr Nadar«, schreibt er in der Gazette des beaux-arts, »hat aus seinen Porträtaufnahmen unbestreitbar Kunstwerke im eigentlichen Sinne des Wortes gemacht, und zwar durch die Art, wie er seine Modelle ins Licht setzt, durch die Freiheit, mit der sie sich bewegen und ihre Haltungen einnehmen können, und vor allem, indem er nach ihrem jeweils typischen Gesichtsausdruck sucht. Die gesamte literarische, künstlerische, schauspielerische, politische, mit einem Wort geistige Elite unserer Zeit hat sich in seinem Atelier eingefunden. Die Sonne ist für die praktische Seite zuständig, und Herr Nadar ist der Künstler, der ihr den Entwurf vorgibt.«

Knapp ein Jahrzehnt lang scheint das Porträt Nadar künstlerisch herausgefordert zu haben. Danach, heißt es, habe ihn die Fotografie gelangweilt. Nicht, dass er nicht weiterhin fotografiert hätte. 1861 gelingen ihm bei Kunstlicht Aufsehen erregende Aufnahmen in den Pariser Katakomben. Er fotografiert aus dem Fesselballon. Und auch dem fotografischen Porträt bleibt er weiterhin verbunden, allerdings - ab 1861, der Eröffnung seines neuen, großen Ateliers - fast nur noch im Sinne jener quasi »industrialisierten« Form, wie sie seit Disdéri fast die gesamte Branche ergriffen hat. Letzterer hatte ein Verfahren entwickelt, mit dessen Hilfe bis zu zwölf etwa handtellergroße Porträts rasch und billig hergestellt werden konnten.

Nadars Antwort auf die kommerzielle Herausforderung war das erwähnte Atelier am Boulevard des Capucines, das ihn die damals ungeheure Summe von 230000 (geliehenen) Francs gekostet haben soll. Von 50 Mitarbeitern wird berichtet, die bis zu zehn Porträts täglich anfertigten. Drei waren es zuvor gewesen. Dass bei dieser Massenproduktion die einstmals geforderte Charakterbilanz im geforderten Intimporträt kaum noch zu erreichen war, ist leicht nachzuvollziehen. Wenn das Atelier Nadar in jenen 1860er Jahren noch von sich reden machte, dann vor allem durch seine Größe und die für die Zeit ungewöhnlichen Werbemethoden. So prangte an der Fassade zum Boulevard in nicht zu übersehenden roten Lettern und nachts zusätzlich beleuchtet Nadars Schriftzug. Zumindest das Gespür für den großen Auftritt hatten Nadar und seine junge Klientin gemein.

Nadar: Sarah Bernhardt, um 1864
Unbekanntes Futter für sein Objektiv

Bereits 1862 hatte Sarah Bernhardt nachweislich zum ersten Mal das Atelier Nadar betreten. Belegt ist eine Visitkarte (Bibliothèque Nationale), die bereits alle Zeichen der Standardisierung im Porträt aufweist. Hatte Nadar in seinen frühen Bildnissen noch auf Requisiten verzichtet, so beginnen nun auch in seinem Atelier jene Setzstücke Einzug zu halten, wie sie die Atelierfotografie der Gewerbezeit insgesamt für unvermeidlich hält. Bestes Beispiel: jener antikisierende, im Zweifel aus Pappmaché gefertigte und - um Reflexe zu vermeiden - unlackierte Säulenstumpf, wie er auf den bekannten Bildnissen von 1864, aber auch dem früheren Bernhardt-Foto von 1862 deutlich zu sehen ist.

Die Pose auf der älteren Aufnahme ist konventionell, die Lichtregie wenig überzeugend. Das Bild wirkt flach wie die Inszenierung insgesamt. Das übergeworfene helle Tuch lässt Sarahs dürre Ärmchen erkennen, ein »Makel«, der ihr auf der Bühne immer wieder Spott eingetragen hatte. Auch ihrer dichten, krausen Haare wegen war sie als Kind immer wieder gehänselt worden. Diesmal hat die »blonde Negerin« ihr dunkles Haar zurückgebürstet und in einem Zopf gebändigt. Wenn diese unscheinbare Aufnahme etwas nicht ausstrahlt, dann ist es das, was Sarah Bernhardts Wesen, jedenfalls später, charakterisiert: Selbstbewusstsein, Stolz bis hin zum Trotz. »Quand même«, trotz alledem, war nicht zufällig der Wahlspruch ihres Lebens.

Dass Nadar höchstpersönlich dieses Foto aufgenommen hat, scheint so wenig wahrscheinlich, wie wir andererseits davon ausgehen können, dass zwei Jahre später er es war, der im Rahmen einer einzigen Porträtsitzung Sarah Bernhardts viel gerühmte Schönheit überzeugend ins Bild zu setzen wusste. Kunsthistoriker rechnen die Aufnahmen der jungen, unbekannten Mimin zu »Nadars inspiriertesten Werken« (Sylvie Aubenas) und zu seinen besten Arbeiten der Zeit nach 1860 überhaupt. Der Hintergrund ist neutral. Der Säulenstumpf verschwindet hinter einer Pose, die wie hingegossen wirkt. Der verklärte Blick geht in die Ferne. Kein Schmuck, der die Schönheit betonen müsste. Zumindest ist die Kamee am linken Ohr auf unserem Bild kaum zu erkennen. Das volle, dunkle Haar trägt sie offen. Der Burnus, den sie übergeworfen hat, unterstreicht die pyramidenförmig angelegte Gesamtkomposition. Geschickt ist diesmal der magere Oberkörper verhüllt. Allein die linke Schulter zeigt sich ansatzweise und gibt dem Bild eine laszive Note. Helle und dunkle Partien sind hier deutlich gegeneinander gesetzt und steigern im Verein mit der selektiven Schärfe die plastische Bildwirkung. Nur noch selten und einzig, wenn ihn ein Sujet, besser, eine Person gefesselt habe, so Françoise Heilbrun, eine der besten Kennerinnen des Werkes von Nadar, habe der Fotograf in seinen späteren Jahren Bildnisse von dieser Qualität geschaffen.

Insgesamt drei Varianten sind überliefert, und jede Aufnahme darf als gelungen gelten im Sinne einer überzeugenden Visualisierung ihrer Persönlichkeit. Stets ist Sarah Bernhardt im Brustbild und gegen den Säulenstumpf gelehnt wiedergegeben. Das Haar trägt sie offen. Der Burnus wird einmal gegen ein schwarzes Samttuch ausgetauscht. Ob en face oder im Dreiviertelprofil: Stets vermag Nadar die auch 130 Jahre später noch anrührende Schönheit der jungen Schauspielerin herauszuarbeiten. Dass von keinem der Bilder ein zeitgenössischer Abzug (Vintage Print) erhalten ist, erklärt sich aus der - noch - fehlenden Bekanntheit der 20-jährigen. Andererseits scheint gerade dies den Fotografen in besonderer Weise herausgefordert zu haben. »Die größte Freude und einen unvorstellbaren Eifer entfaltet unser fotografischer Held dort, wo sein Objektiv ein noch unbekanntes Futter aufspürt«, schrieb etwa ein Zeitgenosse. Die wenig später zur Legende gewordene »Göttliche« Sarah Bernhardt hat ihn dann nicht mehr interessiert.

Quelle: Hans-Michael Koetzle: Photo Icons. Die Geschichte hinter den Bildern. (Band I:) 1827-1926. Taschen, Köln, (Jubiläumsausgabe) 2008, ISBN-978-3-8365-0801-8. Zitiert wurden Seite 72-79.

Nadar

Eigentlich Gaspard-Félix Tournachon.
1820 in Paris geboren. Medizinstudium, abgebrochen.
1838-48 unstetes Leben als Bohemien. Freundschaft mit Murger und Baudelaire. Erste Karikaturen.
1851 Vorarbeiten für ein Pantheon berühmter Zeitgenossen.
1854 Hinwendung zur Fotografie, Eröffnung eines Ateliers.
1858 erste Aufnahmen bei elektrischem Licht.
1860 Gründung des Atelier Nadar am Boulevard des Capucines.
1861 Bilder in den Katakomben von Paris.
1886 Foto-Interview mit dem 100-jährigen Chemiker Chevreul.
1887 Rückzug aus dem Ateliergeschäft.
1897-99 erneutes Studio in Marseille.
1910 Tod, Beisetzung auf dem Père-Lachaise

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